Tibet, das Dach der Welt und größtes Hochland der Erde, mit einer Ausdehnung von zwei Millionen Quadratkilometern, liegt im südlichen Zentralasien und grenzt an China, Nepal und Indien. Neben einer Fülle an Kunst, Kultur und bedeutenden Bauwerken bietet Tibet auch eine Reihe bezaubernder Teppiche. Deren Einfachheit und Ursprünglichkeit, eine „extreme“ Farbenwahl und die Harmonie in der Ausführung machen diese Teppiche ganz besonders liebenswert.
Wie lange die tibetische Knüpftradition zurückreicht, ist noch umstritten. Wenn man jedoch bedenkt, dass in der Zeit um das 72. Jahrhundert nach Christus das Tarim-Becken, in dem die damals schon teppichknüpfenden Oasenstädte Kaschgar und Khotan liegen, zu Tibet gehörte, so muss der Beginn der tibetischen Knüpfkunst vor dem 7. Jahrhundert nach Christus seinen Anfang genommen haben.
Aus dem 17. Jahrhundert finden wir in einem Bericht des Jesuiten Johann Grueber über den 5. Dalai Lama einen Hinweis auf Teppiche. Grueber beschreibt, dass dieser „auf einem Thron auf einem Kissen, unter das kostbare Teppiche gebreitet sind“, saß. Ob diese Teppiche aus Tibet oder einem anderen Land stammten, erfahren wir aus diesem Text allerdings nicht.
Zu keinem anderen Land der Erde hatte Tibet im Laufe seiner Geschichte engere, ständig zwischen Feindschaft und Freundschaft wechselnde Beziehungen als zu China. Dies erklärt auch, warum, wenngleich in einer eigenen Interpretation, in Tibetteppichen die aus China bekannte Formenwelt zu finden ist.
Tibetteppiche trifft man in Tempeln und Haushalten an und sie finden Verwendung als Sitz-, Schlaf- oder Säulenteppiche sowie als Satteldecken. Abgesehen von den Erzeugnissen der sesshaften und der nomadisierenden Bevölkerung sind die Hauptknüpfzentren Lhasa, Sygatse und Gyantse.
Von der Technik her unterscheiden sich Tibetteppiche von den anderen, in Ghiordes- oder Senneh-Knotentechnik geknüpften Orientteppichen durch den tibetischen Schlingknoten. Dieser Schlingknoten ist dem persischen Sennehknoten ähnlich. Er wird über einen Eisenstab geschlungen, nach der Fertigstellung der Knüpfreihe mit einem Holzhammer festgeschlagen und dann mit einem scharfen Messer aufgeschnitten.
Die dabei überstehenden Wollreste werden mit einer Schere abgeschnitten. Danach wird ein einfacher oder ein doppelter Schussfaden durch die Kettfäden geführt und mit einem schweren Kamm auf die fertige Knotenreihe geschlagen Dieser Vorgang wird so lange wiederholt, bis der Teppich fertiggestellt ist.
Um die einzelnen Muster plastischer erscheinen zu lassen, werden nach Beendigung des Knüpfvorgangs bei manchen Teppichen die Musterpartien ganz fein mit einer Schere nachgeschnitten. Ein Verfahren, das in China Tradition hat und wahrscheinlich von den Tibetern übernommen wurde. Geknüpft wird an einem einfachen, stehenden Knüpfstuhl. Die Kett- und Schussfäden des Grundgewebes von Tibetteppichen sind in den drei nachstehenden Kombinations-Möglichkeiten anzutreffen:
- Wolle, Wolle
- Baumwolle, Wolle
- Baumwolle, Baumwolle.
Hierbei lassen die einzelnen Kombinationsarten gewisse Rückschlüsse auf das Alter des Stückes zu. So sind beispielsweise Teppiche mit wollenem Kett- und Schussfaden vor 1900 einzuordnen. Daraus kann jedoch keine Faustregel abgeleitet werden, da auch hier Ausnahmen die Regel bestätigen.
Als Wollmaterial haben die Knüpfer bei den alten und antiken Stücken die heimische Hochlandwolle aus dem Gebiet um Tschang-Tang verwendet, die äußerst fest und belastbar ist.
Von einem Schirasi (Kantenbefestigung) kann man bei Tibetern eigentlich nicht sprechen. Was man als Kantenbefestigung bezeichnen könnte, ist lose an das Flormaterial angehäkelt. Um diesen verwundbaren Teil des Teppichs besser zu schützen, wurden alte Stoffreste um den Teppich genäht.
Bei Tibetteppichen spielen die Farben eine wichtige Rolle, deren Harmonie das spätere optische Bild bestimmt. Die Textilfärbung in früheren Zeiten war eine komplizierte und äußerst aufwendige Angelegenheit, die nur von wenigen beherrscht wurde. Die in Tibet am häufigsten zum Blaufärben von Wolle verwendete Pflanze ist Indigo, das zum Großteil aus Indien kommt. Die in Süd Tibet und Himalaya Gebiet wachsende Krappwurzel wird als Grundstoff für Rot eingesetzt. Eine weitere Farbdroge ist das Lac Dye, ein aus der Lackschildlaus Coccus Raccae gewonnenes Farbpräparat. Pink erhält man aus der dornigen Martsemastaude, und die Wurzel des in großer Höhe wachsenden wilden Rhabarbers ist der Ausgangsstoff für Gelb. Für Orange bedient man sich des in Kaschmir und seit kurzem auch in Bhutan angepflanzten Safrans, während für die Farben Weis, Grau, Braun und Schwarz auf Naturwolle zurückgegriffen wird.
Zum Fixieren der Farbsubstanzen auf den Wollfasern wurden Beizen benutzt, wobei in Tibet Zinksulfat, Kupfersulfat, Alaun oder Soda eingesetzt wurden.
Ein äußerst interessanter Aspekt ist die Tatsache, dass die am Ende des 19. Jahrhunderts eingeführten Anilinfarben keine negativen Auswirkungen auf die Musterstile der Tibetteppiche hatten, was die hier abgebildeten Stücke deutlich belegen. Hier wurden entweder ausschließlich Naturfarben oder Naturfarben zusammen mit Anilinfarben verwendet.
Die eigenwilligen Tigerteppiche nehmen in der tibetischen Knüpfgeschichte einen besonderen Platz ein. Es ist erstaunlich, wie diese, vor langer Zeit in völliger Abgeschiedenheit und ohne westlichen Einfluss entstandenen Teppiche heute so auf uns wirken, als seien sie ein Produkt unserer modernen Zeit. Tigerteppiche waren ein Privileg von reichen und mächtigen Weltlichen und Geistlichen und ihr Besitz ein Zeichen von Wohlstand. Reisenden dienten sie als soziales Statussymbol.
Vergleicht man das aus der Timuridenzeit und später auch von den Osmanen verwendete Tchintamani-Motiv mit den Mustern der tibetischen Tigerteppiche, ergibt sich eine deutliche Parallele. Beide Motive verkörpern Macht und Stärke, und das Tchintamani-Motiv lässt sich als eine Kombination aus Elementen eines Tiger- und eines Leopardenfells deuten.
Tigerteppiche gibt es seit dem frühen 19. Jahrhundert. Sie dienten als Ersatz für die damals raren und teuren echten Tigerfelle aus Indien. So gesehen kann man sie auch als eine Art Tierschutz für eine bedrohte Tierart interpretieren. Als Vorlage benutzten die Knüpfer die Felle der zu der Zeit noch im eigenen Land vorkommenden Tiger. Bemerkenswert ist, dass jeder Teppich sich vom anderen unterscheidet, die Tigerwirkung jedoch nie verfehlt wird.
Tigerteppiche lassen sich in drei Gruppen einteilen:
- Teppiche mit Fellmuster
- Teppiche mit realistischen Tigerdarstellungen
- Teppiche mit abstrahiertem Fellmuster
Säulenteppiche mit Tigermustern stellen eine absolute Seltenheit dar, denn es gibt in der Literatur keinerlei Hinweise darauf. Säulenteppiche aus Tibet findet man aus zwei Gründen äußerst selten. Zum einen wurden viele Säulen in den Klöstern bemalt, und zum anderen bevorzugten die Mönche Säulenteppiche aus dem Gebiet von Ning Hsia in China, da diese in ihren Augen besser und exklusiver waren.
Hier ein Beispiel einer realistischen Tigerdarstellungen
Auf dem oben gezeigten Läufer sieht man drei freundlich dreinschauende Tigerköpfe, so, als hätte der Knüpfer eine Tiger-Ahnengalerie anfertigen wollen. Umgeben sind die einzelnen Bildmotive von den acht buddhistischen Symbolen:
Deckelvase (vollkommene Weisheit), Lotus (Reinheit), Goldfisch (Erlösung), endloser Knoten (ewiges Leben), Schirm (spirituelle Autorität), Baldachin (Würde), Rad (Lehre) und Meerschneckengehäuse (Stimme Buddhas).
Eine weitere große Teppichgruppe in Tibet bilden die Meditationsteppiche
und die Sitzteppiche
Die Thematik, die all diese Stücke verbindet, ist ein kleines Kreuz, das ein altmongolisches Zeichen zur Symbolisierung von Glück und Erfolg ist und entweder in einem Schachbrettmuster versteckt oder direkt als Kreuz erkennbar ist. Einmal mehr ein Beweis für die Vielfältigkeit und den Einfallsreichtum tibetischer Knüpfer zu einem einzelnen Thema.
Satteldecken erfüllen eine dreifache Funktion. Zum einen erhöhen sie den Sitzkomfort des Reiters auf dem Sattel, zum anderen dienen sie als Schmuck- und Repräsentationsstücke und schließlich als Sitzteppiche während einer Rast zum Schutz gegen die kalte Erde. Von der technischen Seite her betrachtet, bestehen Satteldecken aus zwei separat geknüpften und dann zusammengefügten Teilen, bei denen sich der Flor beider Teile nach unten neigt, um den Beinen des Reiters keinen Widerstand entgegenzusetzen. Damit wird gleichzeitig auch eine zu schnelle Abnutzung des Stücks vermieden.
Das hier abgebildete Stück stammt aus dem späten 16. oder frühen 17. Jahrhundert
Eine genauere Datierung des Stücks ist wegen des fehlenden Literaturvergleichs leider nicht möglich. Die Symbolik des Teppichs beschränkt sich auf vier, in unterschiedlichen Positionen dargestellten Drachen (das Kraft und Güte versinnbildlichende Fabeltier), eine Schlange (für Weisheit, Erkenntnis und Klugheit), einen Fu-Hund (der Wächter vor Tempeleingängen und Hund Buddhas), sowie einen Hirsch (das Reittier der Götter und Symbol für ein langes Leben). Die Bordüre ist mit kleinen Rhombenblüten belegt, deren Schwarz teilweise korrodiert ist. Kleine Teppiche waren im alten Tibet ein beliebtes Einstandsgeschenk bei Hochzeiten oder Umzügen in ein neues Haus. Ein solches Geschenk könnte auch dieser Teppich gewesen sein, in dem sich die Wünsche des Schenkenden auf Glück, Geborgenheit und ein langes Leben vereinen.
Das Kreuzmuster des oben abgebildeten Teppichs ist in Tibet ein beliebtes Motiv zum Bedrucken von Stoffen. Als Teppichtypus ist diese Art jedoch äußerst selten anzutreffen. Die kleinen, buntfarbigen Kreuze (Symbol für Glück und Erfolg) auf dem gelben und roten Untergrund verleihen dem Stück einen äußerst lebhaften und spritzigen Charakter. Die feste und fleischige Wolle, die hierverwendet wurde, lässt annehmen, dass dieser Teppich die Funktion eines Schlafteppichs hatte.
Dynamisch modern präsentiert sich dieser Teppich
Der einfache äußerst wirkungsvolle Aufbau dieses Teppichs besteht aus einigen kleinen Rechtecken, die wiederum aus vier Quadraten zusammengesetzt sind und auf dunkelblauem Grund liegen. Darüber hinaus ist das Stück noch mit einer kleinen roséfarbenen Bordüre versehen.
Obiges Stück ist in nur drei Farben gehalten und zeigt in äußerst abstrahierter Form eine Darstellung der acht allgemeinen Symbole, die von einem einfachen Mäanderband umgeben sind: Drachenperle (sie sagt ihrem Besitzer die Zukunft voraus), goldene Münze (sie verkörpert die innere und äußere Rechtschaffenheit, die ein Mensch haben sollte), Raute (Sieg), Spiegel (Bewahrung vor Unheil), Gong (Glückseligkeit), Bücher (Symbolisierung gute Wünsche), Rhinozeros-Horn (Glück) und Artemisia-Blatt (Gesundheit und hohes Alter).
Läufer von weniger als 5 Metern Länge wurden auf die Bänke in den großen Versammlungshallen der Klöster gelegt, auf denen die Mönche während Gebeten und Zeremonien Platz nahmen. Sie sind meist in den Klöstern geblieben und somit sehr rare Stücke. Umgeben von einem schlichten Mäanderband, bilden auf einem leicht melierten, roséfarbenen Untergrund drei Reihen hintereinander verlaufender Blüten die Musterung dieses Stückes.
Christian Bausback
Quelle: Alte Teppiche aus Tibet, Mannheim, den 10. Oktober 1989 Christian Bausback